Das Neukölln-Programm

„Wir müssen wegkommen vom Image des Problembezirkes.“

Die neue Neuköllner Bürgermeisterin Franziska Giffey stellte am 21.4. 2015 auf einer Pressekonferenz ihr neues Programm vor: Das Neukölln-Programm 2015/16 ,

Giffey Mehr Gentrifizierung wagen

Die Bürgermeisterin Franziska Giffey (36, SPD) begann mit der Vorstellung der Sozialstrukturdaten. Neukölln hat 325 700 Einwohner, mit 42% der Einwohner mit Migrationshintergrund und 15,1% Arbeitslosenquote. Eine Hauptproblemlage seien sozial schwierige Verhältnisse von Kindern und Jugendlichen.
Neukölln hat 10 000 Unternehmen mit 5,7 Mrd. Euro Umsatz und insgesamt 87 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Es wird besonders auf den Tourismus und die Kreativwirtschaft gesetzt. Die Ausgabenstruktur des Bezirkes lasse wenig Spielraum. Die Ausgaben belaufen sich insgesamt auf 781 Mio. Euro. ¾ sind Transfer- und Sozialausgaben, das sind 588 Mio. Euro. Die Personalkosten belaufen sich auf 90 Mio. Euro. Die Kosten für Bau- Investitionen betragen 12 Mio. Euro. Der Spielraum sei sehr gering.
Neukölln verfügt im Jahr 2016 über ein Haushaltsvolumen von 793 Millionen Euro im Jahr 2017 von 811 Millionen Euro. Fast 75% der Mittel gehen in die Zahlung von sozialen Hilfsmitteln. Bildung sei elementar für Giffey. Gute Bildung für alle Kinder. Es soll mehr Ganztagsangebote geben. Es gibt drei Schulbauprojekte. In der Stadtbibliothek werden mittlerweile ein Wachschutz eingesetzt, weil dort Jugendliche stören. Viele Kinder haben zudem Wasserangst, daher unterstützt der Bezirk ein Wassergewöhnungsprojekt, um die Schwimmfähigkeit der Kinder herzustellen.
„Wir müssen wegkommen vom Image des Problembezirkes. Wir müssen Probleme benennen, haben aber auch Potential.“, so Giffey. Neukölln boomt, so heißt es im Programm. Ein Schlüsselprojekt sei das „Premiumobjekt Karl- Marx-Straße“. Die „Schlüsselimmobilien“ seien die leerstehenden Gebäude der Alten Post und das C&A- Gebäude. „Die Kreativwirtschaft ist ein Standortfaktor für Neukölln“, so die Bürgermeisterin. „Neukölln macht glücklich“, es gehe um eine positive Vermarktung von Neukölln. Wie gehen wir eigentlich mit unserer Jugendarbeitslosigkeit um, so fragte sie. Der Zustand sei nicht hinnehmbar. Neukölln brauche eine Jugendberufsagentur. Bei über 2000 jungen Menschen unter 25 Jahren ohne Ausbildung und Arbeitsplatz muss der Bezirk handeln, so heißt es im Programm. Es gebe vier Modellbezirke, im Frühjahr 2016 mit der zweiten Welle soll Neukölln eine Jugendberufsagentur bekommen. Der Standort ist die Sonnenallee 282. Mit Absprache des Jobcenters gebe es Umbaumaßnahmen.
Viele Menschen in Neukölln fürchten eine Verdrängung, daher seien Mieten ein wichtiges Thema. „Die Einführung des Milieuschutzes im Reuterkiez und in der Schillerpromenade wird, wenn die entsprechenden Prüfergebnisse dazu anraten, auf den Weg gebracht.“, so im Programm. Das Wichtigste sei der Wohnungsbau, der vorangebracht werden solle. Wohnungsbauprojekte gebe es auf dem Kindl-Gelände, dem ehemaligen Krankenhausgelände am Mariendorfer Weg, in der südlichen Gropiusstadt und auf den Buckower Feldern.


Im Bürgeramt sollen auch weiterhin Spontanabfertigungen möglich sein, nicht nur Terminvergaben. Es gebe 28 000 funktionale Analphabeten. Räume der Volkshochschule befinden sich schon in Einkaufszentren, jetzt werde das Projekt „Bürgeramt goes shopping“ auf den Weg gebracht.
Kultur, Kunst, Kreativität seien für Neukölln ein „Standortvorteil“. 48 Stunden Neukölln wird weiter vom Bezirk unterstützt. 2016 gibt es das 100jährige Bestehen des Körnerparks. Zum Punkt Sportinfrastruktur sagte die Bürgermeisterin u.a.: „Sporthallen sind nicht der richtige Ort, um Flüchtlinge unterzubringen.“ Neukölln baut zudem eine neue Stadtbibliothek in Rudow, die Senoirenfreizeitstätte sei dort nicht zu halten gewesen.
Ordnung und Sauberkeit seien Themen, die in Neukölln nicht gelöst seien. Sie appellierte an das Verhalten der Leute, jede/r müsse einen eigenen Beitrag leisten. Ab Mitte 2015 soll ein Online- Beschwerdemanagement der Berliner Ordnungsämter auch in Neukölln auf den Weg gebracht werden. Berlin sei eine wachsende Stadt mit einem Mehrbedarf an Personal. Das Durchschnittsalter beim Personal seien 45 Jahre, viele gehen in den nächsten Jahren in Rente. Es gebe 100 Auszubildende.
Neukölln setze auf mehr Transparenz und Bürgernähe. „Ich gehe mal Neuköllner machen“, sagte Heinz Buschkowsky, wenn er zu den Einbürgerungen ging. Jetzt wird die Einbürgerung von Neu-Neuköllnern von der neuen Bezirksbürgermeisterin vorgenommen.
Das was Neukölln ausmachen solle, sei „pragmatische ehrliche Politik“, Probleme sollen benannt werden, wo was gemacht werden muß. Soweit das Programm.

Was fehlt

Seltsamerweise gibt es in dem Programm keinen Abschnitt zur Integration und angesichts der aktuellen Situation zu Flüchtlingen. Die Bürgermeisterin meinte in Neukölln sei alles Integration. In Nord-Neukölln betrage der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund 53% . Es gebe Kieze, die drohen zu kippen, so Giffey. Es gibt 62 Schulen in Neukölln, 80% der Kinder sei von der Zuzahlung von Lehrmitteln befreit. Die Armutssituation vieler migrantischer Kinder und Jugendlichen in Neukölln ist verheerend, aber großes Thema war das in der Pressekonferenz nicht.

Absurderweise bezog sich die erste Frage der Journalisten auf das Bürgeramt, als wenn es keine größeren Probleme gebe. Die zweite Frage der Journalisten galt der Karl- Marx-Straße. Die Bürgermeisterin meinte die Suche nach Nutzern der leerstehenden Gebäude gestalte sich schwierig. Konkrete Anfragen gebe es nicht. Aber die Vitalisierung der Straße solle befördert werden. Der Verwertungsdruck werde größer. Auf der einen Seite Massen an Obdachlosen und Flüchtlingsströmen in Berlin, andererseits stehen Gebäude leer. Das ist Kapitalismus.

Bezeichnend auch, wenn man die Zeilen der Abschnitte zählt. Während den Bürgerämtern 13 Zeilen gewidmet sind, ist den Politikern das gravierende Problem der Jugendarbeitslosigkeit nicht mal fünf Zeilen wert. Ob den Jugendlichen auch weiterhin mit Sanktionen gedroht werde, wurde so nicht beantwortet. Auch in Neukölln soll es ein neues Jugendjobcenter geben. Wirklich bezeichnend, die Jugendberufsagentur war den Journalisten keine Frage wert. Weitere Infos zum Thema Jugendberufsagentur unten.

Es fiel auch niemandem auf, dass das Sozialamt (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) im Programm nicht vorkommt. Die Frage nach diesem, und das man dort wohl bei dem kleinen muffigen Wartezimmer bald anbauen müsse, beantwortete die Bürgermeisterin damit, dass sie sich alle Abteilungen ansehen wird und dabei auch die Attraktivität des Wartebereiches überprüfen wird. Die Zahl der GrunsicherungsbezieherInnen in Neukölln steigt, diese sind trotz Krankheit und Alter mit Siechtum konfrontiert. Ich fragte die Bürgermeisterin, ob sie sich vorstellen könne, von einem Regelsatz von 399 Euro zu leben. (Hartz IV-Regelsatz, die Grundsicherung wird zur Rente aufgestockt). Besonders makaber, dass Rollstuhlfahrer und Alte die Lebensmittelausgaben in Neukölln aufsuchen müssen. Ob Armut kein Thema sei? Es sei doch alles nur Symptombekämpfung. Doch Armut sei ein wesentliches Thema in Neukölln sagte sie. Fragen von Teilhabe und Mangel an Teilhabe. Fragen nach der Verbesserung der Einnahmensituation des Bezirkes und dem Milieuschutz beantwortete sie nicht wirklich. Als ich zwecks der mangelnden Einnahmesituation auf den unfassbaren Reichtum (allerdings nicht in Neukölln) verweise, meint eine Journalistin: „Das gehört nicht hier hin.“ Wenn etwas genügend vorhanden ist, dann Geld. Dementsprechend müssten die Kommunen Druck machen, um eine andere Steuerpolitik und Umverteilung zu erreichen. Da scheint der politische Wille zu fehlen, aber über die Sozialausgaben klagen…

Es wurde nach dem Thema Zuwanderung gefragt. Die Zuwanderung aus Osteuropa sei hoch relevant. Die größte Zuzugsgruppe seien Menschen aus Bulgarien und Rumänien, Syrien und Kosovo. Italiener und Spanier seien oft gut ausgebildete junge Leute, sie seien die größten Abnehmer von Deutsch-Volkshochschulkursen. Dagegen würden die Großfamilien aus Bulgarien und Rumänien oft ausgebeutet, nichts mit Mindestlohn. Bei den Unterkünften seien Themen wie Schrottimmobilien sowie Bau- und Wohnaufsicht wichtig. Befragt nach den Flüchtlingsunterkünften sagte sie, die Durchflußrate sei hoch. In den Schulklassen gebe es keine Kontinuität. In der Späthstraße seien 300 Flüchtlinge. Alternativen seien der Mariendorfer Weg mit 100 Plätzen und der Standort Karl-Marx-Straße/ Grenzallee. Das seien Stadtlagen, wo ohnehin schon viele Probleme seien.

Die Frage, warum Heinz Buschkowsky nicht zu ihrer Wahl gekommen sei, umschiffte sie. 13 Jahre hätte sie mit Buschkowsky zusammengearbeitet. Sie hätte EU-Gelder nach Neukölln geholt. Als Verwaltungsmitarbeiter kämen sie an die Grenze der Gestaltungsmöglichkeiten. Als Bildungsstadträtin hätte sie viele wichtige Schwerpunktentwicklungen vorangebracht. Sie wolle den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abkoppeln. Das kann ja wohl als Treppenwitz der Geschichte bezeichnet werden, solange Familien in Armut leben müssen. Sie lobte Buschkowsky, er hätte Probleme benannt. Dass er aber z.B. mit seinen Bild-Kolumnen, einem Interview in der Jungen Freiheit und seinem Buch „Neukölln ist überall“ Ressentiments vor allem gegen Muslime und damit die grassierende Islamfeindlichkeit befördert hat, natürlich kein Wort. SPD-Parteidisziplin. Auch im Raum schien das niemand zu interessieren. Immerhin hat Buschkowsky viel für den schlechten Ruf von Nord-Neukölln beigetragen.

Dagegen ist der neuen Bürgermeisterin besonders die Gründungs- und Start-up-Szene wichtig. Es müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass die Menschen nicht wieder gehen. Ein Knackpunkt sei, wenn diese Leute Kinder bekommen, gehen sie wieder. Neukölln müsse so familienfreundlich sein, um bleiben zu können. „Das ist die Aufgabe, zu zeigen, dass Neukölln durchaus Potential hat“, so Giffey. Es gehe um die „Stärkung des Wirtschaftsstandortes Neukölln“.
„Es sind Herausforderungen, die wir hier haben, die haben ganz viele Städte. Ich glaube, es gibt ein positives Potential.“

Zum Schluß wurde nochmal nach dem Milieuschutz gefragt und nach dem Zusammenhang des Zuzugs der Kreativen und den gestiegenen Mieten. Sie meinte die Kreativen würden durch höhere Mieten selbst verdrängt, wer kann sich diese Mieten leisten. Daher sei Milieuschutz auch für die Kreativen sehr wichtig. Sie würden den Standort so attraktiv machen, dass sie sich selbst verdrängen. „Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung zu stoppen ist. Die Privatvermieter werden die Mieten nehmen, die sie am Markt kriegen.“ Wichtig seien die Schulen, wo sie eine soziale Mischung hinkriegen wollen. So melden am Campus Rüttli mehr „biodeutsche“ Eltern ihre Kinder an. Der Schulgemeinschaft würde es gut gehen, wenn Kinder Eltern hätten, die arbeiten gehen. Es sei wichtig, dass bildungsbetonte Eltern hier bleiben…

Absolut bezeichnend, was die Boulevardpresse aus der Pressekonferenz macht. Die BZ schreibt hauptsächlich über die Bürgerämter. Aufhänger: „Wir wollen wegkommen von den langen Schlangen im Bürgeramt“, sagt die neue Bezirkschefin Franziska Giffey (36, SPD). Die Bürgermeisterin rechnet vor: „43 Prozent der Kunden kommen aus anderen Bezirken. Das können wir nicht mehr locker machen.“ Bürgermeisterin Franziska Giffey (36, SPD) will den Ämter-Tourismus nach Neukölln eindämmem – indem sie eigene Bürger bevorzugt.

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