Das Geschäft mit der Wohnungsnot

Ein Streifzug durch Neukölln

Ein Artikel aus der im Oktober erschienenen neuen Ausgabe der RandNotizen – Stadtteilzeitung aus dem Norden Neuköllns.

Wer durch Neuköllner Straßen streift, trifft an fast jeder Ecke auf Beratungsstellen, die Hilfe bei „Mietschulden“, „Problemen mit dem Jobcenter“ sowie „Wohnungsverlust“ anbieten. Einige solcher Aushänge sind in dieser Ausgabe der Randnotizen abgebildet.

Beratung Hermannplatz

Beratungshochburg Neukölln

Die auffällige Dichte solcher Beratungsstellen kommt in Neukölln nicht von ungefähr. Der Bezirk hat in ganz Berlin die mit Abstand meisten der insgesamt 11.046 Wohnungslosen: Zum Jahresende 2013 waren in Neukölln 2047 Menschen wohnungslos. Gleichzeitig ist das Berliner Jobcenter das größte der Stadt mit den meisten „Kundinnen und Kunden“ und gilt nicht umsonst als das repressivste: Seit 2007 weist das Jobcenter Neukölln jedes Jahr mit ca. 85% die höchste Ablehnungsquote bei Anträgen auf Mietschuldenübernahme auf. Wessen Antrag abgelehnt wird, der wird entweder zwangsgeräumt oder verlässt vorher „freiwillig“ die Wohnung, um die hohen Kosten für die Zwangsvollstreckung nicht auch noch zahlen zu müssen.

Auf der anderen Seite des staatlichen Hilfesystems tauchen die Menschen dann wieder auf: Neukölln ist der Bezirk, in dem am meisten Geld ausgegeben wird für freie Träger der Wohnungsnotfallhilfe. 30% aller Hilfeleistungen zur „Überwindung besonderer Lebensverhältnisse und sozialer Schwierigkeiten“ nach §67 SGB XII Berlins wurden im Jahr 2013 in Neukölln gezahlt. Insgesamt 26 freie Träger operieren auf dem Gebiet; sie erhalten einen Satz von knapp 25 Euro pro betreuter Person und Termin vom Bezirk, um Menschen zu helfen, die von Zwangsräumung und Wohnungslosigkeit bedroht sind oder keine Wohnung finden aufgrund „sozialer Schwierigkeiten“ und die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können.


Keine Wohnungen, hilflose Träger

Dabei kommt es nicht selten vor, dass Mitarbeiter*innen dieser Träger eine Provision für jede Person erhalten, die sie „aquirieren“ und so viele Klient*innen gleichzeitig betreuen, dass sie keine Zeit für persönliche Termine haben. Auf individuelle Ausgangslagen der Betreuten kann bei dem hohen Arbeitspensum der Sozialarbeiter*innen oft mals nicht eingegangen werden: Wohnungsangebote werden standardmäßig an alle Klient*innen übermittelt, egal ob diese wegen ihrer vermeintlichen Herkunft in bestimmten Berliner Stadtteilen nicht sicher wohnen oder aufgrund ihres Gesundheitszustandes weite Fahrwege zu Besichtigungsterminen gar nicht auf sich nehmen können. Einige der Beratungsstellen verlangen darüber hinaus von ihren Klient*innen eine Pauschale von bspw. 10 Euro als Voraussetzung für jede Unterstützungsstätigkeit. Obwohl es selbstverständlich auch bemühte Mitarbeiter*innen bei Trägern gibt, stellt sich angesichts der Lage auf dem Neuköllner Wohnungsmarkt die Frage, was die freien Träger überhaupt für die Leute tun können: Eine Wohnung mit Hartz IV, Schufa-Eintrag und/oder aktuellen Mietschulden im Kiez zu fi nden, ist nahezu unmöglich. Da hilft es auch nicht viel, wenn ein eloquenter Sozialarbeiter von der „Bürgerhilfe“, „AWO“ oder „Casa Nostra“ persönlich bei der Vermieterin anruft .

Bleibt nur das „geschützte Marktsegment“, in dem die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Wohnungen für Menschen, die sich selbst nur schwer mit Wohnraum versorgen können, vorhalten. Wartezeit für eine solche Wohnung in Neukölln aktuell: 1-2 Jahre. Gesamtzahl der Wohnungen: 1376. Vertragsabschlüsse im Jahr 2013: 1114. Zudem sind die Wohnungen über die gesamte Stadt verteilt (Hauptschwerpunkte liegen in Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf) und Marktsegmentberechtigte haben kein Recht, den Stadtteil, in dem sie wohnen möchten, zu wählen.

Wenn keine Marktsegmentwohnung gefunden werden konnte, bleibt auch für die freien Träger nach dem Wohnungsverlust nicht viel mehr, als einen Hostelplatz für maximal 25 Euro pro Person und Nacht zu suchen, weil die Wohnheime mal wieder voll sind.

Wer hilft eigentlich wem? Staatlich organisierte Verdrängung und staatlich geförderte Hilfe

Eine völlig fehlgeschlagene Wohnungspolitik, das repressive und sozialchauvinistische Handeln des Jobcenters, fehlender Wohnraum sowie eine auf Mittelschichtsklientel ausgerichtete Geschäft spolitik bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaft en – der Staat produziert nicht nur in Neukölln aktiv Wohnungslosigkeit und soziale Notlagen. Er bietet gleichzeitig kaum Unterstützung für Menschen in diesen Notlagen an und verweist stattdessen auf Beratungs- und Betreuungsangebote freier Träger, die ihrerseits angesichts der Lage auf dem (Neuköllner) Wohnungsmarkt weitgehend hilfl os sind. Im schlechtesten Fall geht es den Trägern nur um den vom Bezirk gezahlten Betreuungssatz.

Weder auf den Staat noch auf Träger kann vertraut werden, wenn es darum geht, eine Lösung für Probleme wie „Räumungsklagen“, „Wohnungslosigkeit“ und „Schwierigkeiten mit Ämtern“ zu finden. Stattdessen geht es darum, solidarische Strukturen aufzubauen, sodass wir selbst in der Lage sind, uns und anderen zu helfen und gleichzeitig die Ursachen von Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen.

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