Geh doch zur Tafel!

Der folgende Text wurde bereits in der im Juli erschienenen Ausgabe 9 der RandNotizen – Stadtteilzeitung aus dem Norden Neuköllns veröffentlicht.

Seit 20 Jahren gibt es die Tafeln in Deutschland, die erste wurde 1993 in Berlin gegründet. RandNotizen sprach mit Ute*, die des öfteren eine Lebensmittelausgabe von „Laib und Seele“ in Neukölln aufsucht und zudem politisch aktiv ist. (*Der Name ist geändert.)

RandNotizen: Du bist Tafelnutzerin. Warum?

Ute: Ich bin Hartz IV-Bezieherin. Der Regelsatz beträgt 382 Euro. Mir reicht das Geld vorn und hinten nicht, weil ich zum Beispiel auch kulturelle Ansprüche habe. Ich leiste mir dann auch mal einen Kinobesuch, einen Volkshochschulkurs oder Bücher. Zum Ausgleich gehe ich zur Tafel. Und das kostet mich ganz schön Überwindung.

RandNotizen: Was ist denn das Schlimmste an den Tafeln?

Ute: Die Entwürdigung, vor allem das Schlangestehen an der Straße. Da wird man schon mal merkwürdig angeschaut. Ich glaube aber eher, dass die Vorbeifahrenden und -gehenden Angst haben, dort auch mal dastehen zu müssen. Man ist sozusagen das Drohpotenzial, dass die Leute sich anpassen, um nicht ganz unten zu landen. Sie nehmen dafür auch stressige und miese Jobs in Kauf.

RandNotizen: Schämst Du dich dort zu stehen? Und wie ist das mit den anderen?

Ute: Bei den anderen wird das unterschiedlich sein. Je nachdem, ob sie sich an ihrem Schicksal selbst die Schuld geben. Aber ehrlich, ich möchte dort auch nicht von meinen Nachbarn gesehen werden. Zur Zeit stehen wir in der Karl-Marx-Straße im Hof, weil vorne ein Fahrstuhl eingebaut wird. Mir graut schon wieder davor, wenn wir vorne an der viel befahrenen Straße stehen. Aber darüber scheinen sich die Tafelbetreiber keine Gedanken zu machen.

RandNotizen: Aber die Tafeln geben sich doch einen sozialen Anspruch. Sie geben überschüssige Lebensmittel an Bedürftige weiter, so heißt es auf ihrer Website.

Ute: Wenn ich schon das Wort Bedürftige höre! Es gibt dort ja auch eine Bedürftigkeitsprüfung, d.h. die Leute müssen Bescheide vorlegen, Hartz-IV-Bescheide, Rentenbescheide usw. Was ist mit jenen, die keine Papiere haben? Und dann wird man genauestens registriert, in mehrere Listen mit Adresse eingetragen. In Sachen Bürokratie ist dieses Land Spitze. Dann bekommt man eine gelbe Karte, wo jeder Termin abgestempelt wird, damit man nicht mehrfach Sachen abholt.

RandNotizen: Hast Du denn eine Vorstellung, wie es anders funktionieren kann?

Ute: Es gab zum Beispiel mal eine Erwerbsloseninitiative in Berlin, die von der Tafel angeliefert wurde und selbstorganisiert die Lebensmittel verteilt hat. Die Idee war, dass sich alle auf gleicher Augenhöhe begegnen. Viele haben sich aktiv beteiligt. Das hat auch funktioniert. Oder es gibt Volxküchen, die auch keine Bedürftigkeitsprüfung machen. Das Argument der Tafeln ist ja, dass sich auch Menschen, die genügend Geld haben, dann Lebensmittel abholen würden. Da kann ich nur sagen, die brauchen eine psychologische Behandlung. Dieses ganze Kontrollsystem dient natürlich der Disziplinierung. Und als „Tafelkunde“ bist du ein gläserner Mensch.

RandNotizen: Was ist mit den Helfern, die sich ehrenamtlich aufopfern?

Ute: Das ist sehr unterschiedlich, so wie die Menschen eben sind. In der Lebensmittelausgabe in der Fuldastraße kam es mir zum Teil eher autoritär vor. Da gab es am Beginn oftmals eine Belehrung, wie man sich zu verhalten habe, wie in der Schule. Da standen Helfer nicht nur mit Handschuhen, sondern auch mit Mundschutz da. Ekel vor den „Kunden“ oder was? In der Karl- Marx-Straße habe ich auch schon im Befehlston gehört: „Stehen bleiben!“. Aber es gibt auch sehr nette Helfer, die sich wirklich bemühen. Für die Almosen wird dann allerdings auch Dankbarkeit erwartet.

RandNotizen: Wie viele nutzen denn die Lebensmittelausgaben im Norden Neuköllns?

Ute: Vor paar Jahren waren es an einem Tag in der Fuldastraße fast 200, so dass es lange Wartezeiten gab. Da der Andrang nicht mehr bewältigt werden konnte, wurde die Menge durch ein kompliziertes Nummernsystem aufgesplittet, so dass man nur noch vierzehntägig Lebensmittel abholen konnte. In der Karl-Marx-Straße sind es die Hälfte, es geht auch wesentlich schneller. Aber mit zwei Stunden muss man mindestens rechnen. Manche stehen allerdings schon dermaßen früh da, die warten viel länger. Um 12 Uhr wird mit der Nummernvergabe begonnen, ab 13 Uhr beginnt die Ausgabe. Ein Euro muss man bezahlen. Und manchmal geht man nach langem Warten mit einem kleinen Beutel wieder nach Hause. Dann lohnt sich das Gewarte überhaupt nicht. Ersparnis: fünf bis höchstens zehn Euro.

RandNotizen: Und wie ist das mit der Qualität der Lebensmittel?

Ute: In der Karl-Marx-Straße ist die meines Erachtens o.k. In der Fuldastraße gab es mehr an Quantität, dafür war die Qualität oft miserabel, d.h. einiges konnte man gleich wegschmeißen. Ja sie versprechen eine „Tafel“ und liefern uns ein Resteessen.

RandNotizen: Wie siehst Du die Rolle der Spender und Sponsoren?

Ute: Die Sponsoren geben sich damit auch noch ein soziales Image, dabei sparen sie sich nur die Entsorgungskosten und bekommen dafür auch noch eine Spendenbescheinigung. Wir sind sozusagen ihre Mülleimer. Spender ist zum Beispiel Lidl, die für schlechte Arbeitsbedingungen berüchtigt sind. Sponsor ist auch McKinsey, die zum Beispiel an der Hartz-IV-Reform beteiligt waren. Schirmherrin der Tafeln in Deutschland ist zur Zeit die Familienministerin Kristina Schröder. Da kann ich nur lachen. Über eine Millionen Kinder wachsen in Deutschland in Armut auf, auch Ergebnis ihrer Politik.

RandNotizen: Wer nutzt die Tafeln?

Ute: Dort sind Familien mit Kindern, Alleinerziehende, RentnerInnen, Jugendliche, also jung bis alt, MigrantInnen, und vor allem habe ich den Eindruck viele Kranke, auch Rollstuhlfahrer. Armut macht krank bzw. Krankheit macht arm.

RandNotizen: Bist du für die Abschaffung der Tafeln?

Ute: Solange diese Verhältnisse so sind, können sie nicht abgeschafft werden. Früher hieß es gegenüber KritikerInnen des Kapitalismus „Geh doch nach drüben!“, mittlerweile heißt es „Geh doch zur Tafel!“. Die Tafeln wären erfolgreich, wenn sie sich selbst abschaffen würden. Solange sie bestehen, könnten die Tafeln die Menschen politisieren und mobilisieren. Ich gebe zu, das ist schwierig. In unserer Erwerbsloseninitiative haben wir das damals auch versucht. Manche waren einfach zu kaputt und wir waren nur eine kleine Initiative. Es gibt dagegen derzeit mehr als 900 Tafeln mit 1,5 Millionen NutzerInnen. Wenn diese gemeinsam mit den HelferInnen gegen die enorme soziale Spaltung der Gesellschaft aufbegehren würden, wäre das schon was. Aber da ist bei den Tafelbetreibern der politische Wille nicht da.

RandNotizen: Wo siehst Du Alternativen?

Ute: Erstmal müsste der Regelsatz erhöht werden, damit man nicht gezwungen ist, zur Tafel zu gehen. Auch die Sanktionen bei Hartz IV müssen abgeschafft werden. Ich möchte keine Almosenempfängerin und Bittstellerin sein, sondern fordere soziale Rechte. Und es müsste umverteilt werden, dieser sagenhafte Reichtum muss entsprechend besteuert werden. Aber ich glaube nicht, dass dieser Staat und diese Parteien das tun werden. Der Druck muss von unten kommen. Aber eigentlich glaube ich nicht an eine Lösung in diesem System. Diese Überproduktion, auch an Lebensmitteln, läuft dann weiter wie bisher. Die Wachstums- und Profitlogik muss durchbrochen werden, wir brauchen eine Solidarische Ökonomie. Neben der Verteilungsfrage müsste auch die Systemfrage gestellt werden. Ich habe erlebt, wie ein mir verhasster autoritärer Staat zusammengekracht ist, die DDR, das gibt mir Kraft. Aber damals gab es keinen Existenzdruck. Heute ist für mich die soziale Frage entscheidend, so besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung ein Prozent des Vermögens, das ist ungeheuerlich und allein ein Grund für eine Revolte.

RandNotizen: Hast Du noch Hoffnung, dass sich auch hier was bewegt?

Ute: Ja, an der Frage der Zwangsräumungen in Berlin sieht man, dass sich inzwischen Menschen wehren, die das früher nicht getan hätten. Immer mehr Leute haben die Schnauze voll. Es bewegt sich was. In Sachen Gentrifizierung organisieren sich die Menschen in den Stadtteilen, das ist der richtige Ansatz. Stadtteilarbeit brauchen wir auch in Sachen eigener Existenzsicherung, ob erwerbslos oder prekär arbeitend. Die eigene soziale Lage müsste thematisiert werden, Mieten sind dabei ein Bestandteil. Armut und Tafelnutzung ein anderer. Die Herrschenden und ihre Institutionen versuchen den Armen ihre Würde zu nehmen. Lassen wir uns nicht entwürdigen!

Ein kritisches Tafelbündnis: http://www.aktionsbuendnis20.de/
Die Tafeln: http://www.tafel.de/

Ausgabestellen der Tafel in Neukölln :
Ev. Kirchengemeinde Martin Luther
Fuldastraße 50
12045 Berlin
Mittwochs 14:00-16:00 Uhr. Aufgrund der hohen Besucherzahlen wird nur 14-tägig bedient. Einzelheiten dazu finden Sie im Schaukasten der Gemeinde.
Für die PLZ: 10967 (Neukölln), 12045, 12047, 12347
Zusätzlich gibt es eine Kleiderausgabe, einen Büchertisch und Gesprächsangebote.

Ausgabestellen der Tafel in Rixdorf :
Ev. Kirchengemeinde Rixdorf
Karl-Marx-Str. 197
12055 Berlin
Donnerstags 13.00-15.00 Uhr
DIE LOSE WERDEN UM 12:00 UHR AUSGETEILT
Für die PLZ: 12043, 12049, 12051, 12053, 12055, 12057, 12059
Zusätzlich gibt es Bücher, Kleidung, Schuhe, Spielsachen und Gebrauchsgegenstände.
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