Das Stadtteilkomitee Neukölln hat Ende März eine lesenswerte Broschüre zu „kriminalitätsbelasteten Orten“ in Neukölln veröffentlicht, die wir hier dokumentieren.
ACHTUNG ÜBERWACHUNG
Im aktuellen Koalitionsvertrag hat sich der rotgrün-rote Senat darauf geeinigt, an den sieben „kriminalitätsbelasteten Orten” (kbO) in Berlin Kameras zu installieren. Nach einer kurzen medialen Aufmerksamkeit direkt nach der Regierungsbildung spielt das Thema mittlerweile kaum noch eine Rolle.
Dabei wird die Existenz der kbO seit Jahren von Anwohnerinitiativen und Verfassungsrechtler*innen stark kritisiert. Der aktuelle Plan, Videotechnik einzusetzen, würde darüber hinaus eine massive Verschärfung einer Entwicklung darstellen, die inganz Deutschland zu beobachten ist: Die Polizei bekommt immer mehr Befugnisse und der öffentliche Raum wird immer mehr überwacht. Das alles passiert im Namen der Sicherheit – die Frage ist nur, wessen Sicherheit.
Diese Broschüre erklärt im ersten Teil was kbO allgemein sind und wo diese sich konkret in Neukölln befinden. Im zweiten und dritten Teil wird die Funktion der kbO innerhalb der sozialen Konflikte im Bezirk analysiert. Zum Schluss wird die Politik des Senats beleuchtet und konkrete Forderungen benannt.
Überall Polizei, nirgendwo Sicherheit! KbOs abschaffen
- Was ist ein kbO?
- Konflikte in Neukölln
- Die Funktion von kbO
- Verschärfung durch Kameras
- Was bedeutet Sicherheit?
Im Jahr 1992 schreibt der Berliner Senat im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) die Einrichtung „gefährlicher Orte“ fest. Damit wird die polizeiliche Befugnis zur anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrolle und Durchsuchung eingeführt. Im Jahr 2002 werden die „gefährlichen Orte“ in „kriminalitätsbelastete Orte“ umbenannt.
Diese Orte sind definiert als Orte, an denen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder begangen werden. An kbO darf die Polizei ohne Verdacht auf eine konkrete Gefahr die Identität von Personen feststellen, sie und ihre Sachen durchsuchen. Und das nur, weil sie sich an diesem Ort aufhalten.
In ganz Berlin sind sieben Orte als kbO geführt, wovon sich zwei in Neukölln befinden: der kbO Hermannplatz/Donaukiez und der kbO Hermannstraße/Bhf. Neukölln. Die Polizei begründet beide vor allem aufgrund von Diebstahlsdelikten,Körperverletzungen und Straftaten im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln. Beim kbO Hermannstr/Bhf. Neukölln wird außerdem ein Bezug zur „Clankriminalität“ hergestellt.
Wie bei den anderen kbO auch,sind ihre genauen Grenzen unbekannt. Aus Polizeieinsätzen lässt sich aber ableiten, dass sie viel größer sind, als die Namen vermuten lassen. Die beiden kbO umfassen – mit Ausnahme on Gebieten wie dem Körner kiez oder Rixdorf – potenziell die gesamte Fläche zwischen der Sonnenallee im Osten, der Hermannstraße im Westen, dem Hermannplatz im Norden und der Ringbahn im Süden.
Mit anderen Worten: In diesem riesigen Bereich sind gewisse Grundrechte aller Menschen, die sich dort aufhalten, außer Kraft gesetzt. Laut Koalitionsvertrag sollen nun in Teilen der kbO sogar Kameras installiert werden, was bislang rechtlich nicht möglich ist. Was bedeutet das für die Anwohner*innen und die Menschen, die sich tagtäglich an diesen Orten aufhalten?
Mindestausmaß der Neuköllner kbO
- Konflikte in Neukölln
Ganz Nordneukölln ist seit Jahren von massiven Aufwertungs und damit einhergehenden Verdrängungsprozessen betroffen. Besonders sichtbar wird das an großen Plätzen, den Bahnhöfen und den Hauptstraßen – also allgemein an zentralen öffentlich zugänglichen Orten.
Der Hermannplatz ist ein zentraler Treffpunkt der Menschen der umliegenden Kieze, durch den Markt sehr wichtig für die alltägliche Nahversorgung, Veranstaltungsort für kulturelle und politische Aktivitäten und Bezugspunkt für verschiedene Subkulturen. Dennoch spricht der Bürgermeister Martin Hikel (SPD) davon, dass der Platz keine Aufenthaltsqualität habe und man ihn den Menschen zurückgeben müsse. Menschen sind tagtäglich auf dem Hermannplatz, wen meint Hikel also?
Aufwertungsprozesse gehen immer einher mit Konflikten um die Frage, welches Verhalten im öffentlichen Raum als legitim gilt. Dieser Konflikt wird umso stärker, umso mehr Kapitalinteressen ins Spiel kommen – wie aktuell durch die Pläne des Signa-Konzerns. Danach soll das Karstadt-Gebäude abgerissen und durch eine 500 Millionen Euro teure Luxusmall ersetzt werden. Damit diese Investition einen realen Profit abwirft, braucht der Konzern ein anderes Klientel vor Ort – und genau das meint Hikel mit seiner Aussage. Er wünscht sich andere Menschen, mit anderen Bedürfnissen und einem anderem Konsumverhalten am Hermannplatz!
Die Hauptstraßen in Neukölln sind überwiegend geprägt von migrantischem Kleingewerbe, deren Angebote zu einem Großteil von der eigenen Community genutzt werden: von Supermärkten und Shisha-Bars, über Handyläden und Imbissbuden, bis hin zu Klamottenläden und Spielcasinos. Einige diese Gewerbe passen in das Klischee eines diversen Kiezes, weshalb sie auch aktiv von der Bezirksverwaltung umworben und gefördert werden.
Andere wiederum passen nicht zu einem bürgerlichen Konsumort und einem touristisch vermarktbarem Bild. Für den Umgang der Politik mit diesen Gewerbetreibenden stehen sinnbildlich die Razzien in Shisha-Bars. Im Namen des Kampfes gegen „kriminelle Clans“ werden diese Läden seit Jahren unaufhörlich kontrolliert und öffentlich diffamiert. Oftmals werden die Gäste von der Polizei stundenlang festgehalten, durchsucht und ihre Identitäten festgestellt. Grundsätzlich dürfen Behörden das bei Gewerbekontrollen nicht – außer die Läden liegen im Bereich von „kriminalitätsbelasteten Orten“.
Es wäre naiv zu behaupten, dass innerhalb der Gastronomie und dem Nachtleben organisierte Kriminalität keine Rolle spielen
würde. Auffällig ist aber, das Orte wie die bereits gentrifizierte Weserstraße oder Neuköllner Clubs so gut wie nie im Zusammenhang von Betäubungsmitteln, Diebstahl oder körperlichen Übergriffen genannt werden. Und das obwohl in HippsterBars mehr Drogen konsumiert werden als in Shisha-Bars und in Clubs körperliche Übergriffe genauso auf der Tagesordnung stehen wie am Hermannplatz. Der Unterschied für Hikel & Co ist also nicht primär was an diesen Orten passiert, sondern wer sich dort aufhält.
Gerade in Neukölln wird sichtbar, wie bei der Etablierung von kbO Kapitalinteressen, ein bürgerliches Ordnungsverständnis und Rassismus ineinandergreifen. Gebiete die zu kbO ernannt werden, sind sich in ihrer Zusammensetzung sehr ähnlich: eine hohe Arbeitslosenrate, wohnungslose Menschen, viele Migrant*innen und Geflüchtete, alternative Subkulturen und eine öffentlich sichtbar drogenkonsumierende Szene.
Die grundsätzliche Funktion von kbO ist es, genau diese Menschen zu überwachen, zu disziplinieren und mit zu ihrer Verdrängung beizutragen. Die Polizei arbeitet eng mit der BVG, privaten Securityfirmen und Teilen der Anwohnerschaft zusammen, wodurch ein wirksames Kontrollnetz aufgebaut wird. Die Polizei selbst braucht so nicht mal zwingend vor Ort zu sein, da einige Anwohner*innen aktiv an der Überwachung teilnehmen und als Blockwart fungieren.
Dadurch haben einige Menschen immer mehr Angst, die als kbO markierten Orte zu betreten oder meiden diese sogar. Gerade Migrantinnen,Ausländerinnen und Geflüchete werden sehr häufig kontrolliert – Stichwort Racial Profiling. Auch wohnungslose und drogenkonsumierende Menschen sind ständige Ziele der Polizei,die immer häufiger monatelange Platzverweise ausspricht.Aber gerade diese Menschen können zentrale Orte meistens gar nicht meiden, da sich ihr soziales Umfeld und Hilfsangebote dort befinden. Als Folge sind sie ständiger Repression ausgesetzt – bis auch sie verdrängt werden.
Eine ähnliche Logik richtet sich oft auch gegen linke Räume und Menschen, wie etwa beim kbO Rigaer Straße. Denn linke Strukturen stehen einer reinen Profitlogik im Weg und können schwierig sein für ein vermarktbares Stadtbild, weshalb sie immer mehr kriminalisiert und verdrängt werden.
Die Polizei und die kbO erfüllen innerhalb von Städten dieselbe Funktion, die FRONTEX – und rechtsfreie Zonen an den europäischen Außengrenzen erfüllen. Sie regulieren und überwachen die Bewegung von Menschen, sie legen fest wer sich wo aufhalten darf und wo nicht, sie bestrafen diejenigen, die versuchen sich dieser Schikane zu widersetzen. Beide Kontexte folgen demselben Prinzip und werden mit der gleichen staatichen Gewalt durchgesetzt.
So wie FRONTEX seit den letzten Jahren immer weiter aufgerüstet wird, erweitert der Staat auch die Befugnisse der Polizei. Seit 2017 verfügt die Berliner Polizei über mobile Videowagen, die sie vor allem an kbO, aber beispielsweise auch bei Fußballspielen einsetzt. Der Senat teilte im Februar 2022 mit, dass im vorherigen Jahr nach 38 Einsätzen kein Strafverfahren eingeleitet worden sei. Die Polizei habe allerdings eine präventive Wirkung festgestellt.
Anders ausgedrückt: Kameras führen zu Verdrängungseffekten, potenzielle Straftaten werden woanders begangen,aber nicht aufgedeckt oder verhindert. Im selben Dokument steht dennoch, das der Senat strategische Überlegungen anstrebt, „um die Einsatzmittel der Polizei Berlin noch effektiver, effizienter und vielfältiger einzusetzen“. Gemeint ist der im Koalitionsvertrag festgelegte Plan, Kameras an kbO anzubringen.
Die Umsetzung des Vorhabens würde einen weiteren massiven Eingriff in den öffentlichen Raum und die Einschränkung von Grundrechten bedeuten. Denn Kameras machen alle Menschen zu Verdächtigen und sind ein weiterer Schritt in Richtung Massenüberwachung. Dabei hat Berlin im europaweiten Vergleich bereits eine sehr
hohe Dichte an Kameras. Das ist an sich schon ein Problem, gleichzeitig ist die jetzt geplante Verschärfung zusätzlich ein Türöffner für noch weitergehende Befugnisse der Sicherheits behörden.
Die Regierungskoalition aus SPD, Grüne und Linke beteuert zwar gegen eine flächende ckende Videoüberwachung zu – sein, aber das ist nicht wirklich glaubwürdig. Denn seit Jahren erweitert derselbe Senat durchgehend die rechtlichen und technischen Möglichkeiten der Polizei. Wenn die aktuellen Pläne umgesetzt werden, normalisiert sich die Überwachung öffentlicher Räume wieder ein Stückchen mehr. Dadurch wird es in Zukunft für den jetztigen Senat – und erst recht für andere Regierungskonstellationen deutlich einfacher, auch außerhalb von kbO vermehrt Kameras einzusetzen.
Außerdem besteht ständig die Gefahr der technischen Aufrüstung der bereits vorhandenen Kameras. Im aktuellen Plan handelt es sich noch nicht um „intelligente“ Videoüberwachung, die Gesichter oder Handlungen erkennen und verfolgen kann. Eine spätere Aufrüstung zu einer solchen biometrischen Überwachung ist aber nur eine Frage der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der eingesetzten Software. Die Technik existiert bereits und wird in vielen Staaten zur Kontrolle von Menschen eingesetzt.
Die aktuell geplante Verschärfung setzte der damalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) in den Koalitionsverhandlungen durch. Mittlerweile ist er Bausenator und hat trotz massiver Proteste von Anwohnerinitiativen den Bebauungsplan für das Vorhaben von Signa am Hermannplatz eingeleitet.
Es ist offensichtlich, dass es auch und gerade in Neukölln viel Armut, Leid und Gewalt gibt. Aber es geht der Politik
nicht um die Sicherheit der Mehrheit. Im Gegenteil wird seit Jahren eine Politik verfolgt, deren Konsequenzen für die meisten von uns noch mehr Armut, Vereinzelung oder gar den Tod bedeuten: sinkende Löhne, steigende Preise, Angriffe auf Obdachlose, ein kaputtes Gesundheitssystem, die Verfolgung von Antifaschist*innen und die Vertuschung rechten Terrors, Razzien in Shisha-Bars, der Ausverkauf unserer Kieze.
Wir brauchen soziale Lösungen für soziale Probleme statt der Law & Order Politik des Senats. Deshalb fordern wir die
Abschaffung der kbO und einen Verzicht auf die Einführung von Kameraüberwachungen. Statt Kameras an Gebäuden brauchen wir Laptops in Schulen. Statt einer neuen Polizeiwache am Kottbusser Tor brauchen wir mehr Notunterkünfte für wohnungslose Menschen. Statt mehr Einsatzkräfte bei der Polizei brauchen wir mehr Pflegekräfte und Lehrer*innen.
Eins ist klar: es gibt keine einfachen Lösungen, der Staat wird sie uns nicht auf dem Silbertablett servieren – wir müssen sie schon selbst erkämpfen. Konkurrenz, Vereinzelung und Abstiegsängste überwinden wir aber nicht, wenn wir nach unten treten. Nur wenn wir zusammenhalten und gemeinsam für unsere Interessen einstehen,kann sich etwas verändern. Nur so können wir unser Leben wirklich sicherer machen!
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