Vor fünf Jahren erschien die erste Ausgabe der Randnotizen. Seitdem ist viel geschehen, über vieles haben wir berichtet, manches fand nicht seinen Platz. Eine Zeitung zu erstellen bedeutet viel Arbeit und Geduld. Dazu haben wir wenig Ressourcen und erst recht keine professionellen Redakteur*innen. Ein häufigeres Erscheinen bleibt trotzdem unser Ziel, genauso wie der Aufruf, die Randnotizen zu untersützen, sei es durch eigene Artikel, Übersetzungen oder Anregungen. Fünf Jahre Randnotizen bedeuten auch fünf Jahre Entwicklungen in Kiez, Bezirk und Stadt. Wir wollen einige der Entwicklungen dieser Zeit in Erinnerung rufen.
Kein Ende der Verdrängung in Sicht
Nach fünf Jahren lässt sich sagen, dass die Dynamik von Verdrängung und steigenden Mieten nach wie vor fast ungebremst ihren Lauf nimmt. Und Verdrängung hat viele Gesichter, wie ein aktueller Dokumentarfilm zum Thema zeigt. Doch die Menschen sind einfallsreich und entwickeln einen alltäglich Widerstand im Umgang mit der Verdrängung. Die Communities der Arbeitsmigration können sich noch immer in ihren Innenstadtbezirken behaupten. Das Wohnen ist jedoch mit immer weiteren Einbußen verbunden. Menschen mit geringen Einkommen haben durchschnittlich 30% weniger Wohnfläche zur Verfügung als Menschen mit durchschnittlichem Einkommen. Und der mittlerweile stadtweit angespannte Wohnungsmarkt bietet kaum noch Möglichkeiten eine Wohnung mit niedrigem Einkommen zu finden.
Neu nach Neukölln kommen die jungen Kreativen. Aber aus Ländern wie Spanien, Italien oder Griechenland zieht es auch eine neue Welle Arbeitsmigrant*innen in den Bezirk. So entsteht in vielen Ecken vielleicht der subjektive Eindruck, dass Altes und Bewährtes verschwindet. Daran sind aber nicht die Zuzügler*innen schuld, sondern Stadtpolitik und Wohnungmarkt. Sozialeinrichtungen oder Jugendläden haben geschlossen, die dazugehörigen Mittel wurden von Senat, Bezirk und Jobcenter umgeschichtet. Doch auch das ging nicht immer still vonstatten. So mobilisierten Jugendliche öffentlichen Protest gegen die Schließung der Jugendeinrichtungen in Neukölln.
Heute bedarf es keiner repressiven Einrichtungen wie der Task Force Okerstraße mehr. Im Jahr 2008 hetzten der rassistische Hardliner Buschkowsky, Jugendrichterin Heisig („Richterin gnadenlos“) und die damalige Chefin des Quartiersmanagements (QM) Schillerkiez Frau Schmiedeknecht offen gegen Roma, die laut Task Force in „Problemhäusern“ wohnten. Auch gegen die „Trinkergruppen“ auf der Schillerpromenade wurde zu Felde gezogen. Die Roma wurden aus der Okerstaße verdrängt. Die Trinker*innen behaupteten sich trotz abmontierter Tische. Unterstützung bekommen sie jetzt von den Scharen an Biertrinkenden auf dem Weg zum Tempelhofer Feld. Hier hält sich der Aufschrei des QM dann doch in Grenzen. Denn nicht nur die Spätis sollen verdienen, sondern auch die vielen neuen Kaffees sollen sich füllen, und so für das neue Wohlgefühl im Schillerkiez sorgen.
Viele dieser Entwicklungen verlaufend schleichend. Immer sichtbarer wird aber, dass an vielen Orten bestimmte Milieus und ihre Strukturen verschwunden sind. Der Markt und das Geld regeln die Veränderungen des Kiezes. Aber auch die neuen Ateliers, Bars und Eisläden merken, dass das Bestehen am Markt ein hartes Brot ist, genauso wie die Entlohnung und Arbeitsbedingungen der hippen Selbstständigkeit. Nicht zu vergessen die ebenfalls explodierenden Gewerbemieten. Aber es gibt auch eiskalte Investitionsmodelle wie die Burgerdynastie Schillerburger, über die wir mehrfach berichteten. Trotz des nach außen gepflegten Images des unschuldigen kleinen Ladens konnte das im Hintergrund stehende Kapital aufgedeckt werden. Heute expandiert die Schillerkette in die ganze Stadt hinaus.
Stark verändert hat sich auch die Eigentumsstruktur der Häuser. Die Zahl der Einzelbesitzer*innen sinkt stetig zugunsten der finanzkräftigen Immobilienunternehmen, deren Programm alleine die Rendite ist. Hervorzuheben ist auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Menschen verändert haben, die in den Schillerkiez gezogen sind. Waren es vor fünf Jahren noch die Künstler*innen, sind viele von ihnen nicht mehr im Kiez anzutreffen. Für viele von ihnen ist es heute schon wieder zu teuer. Breit machen sich dagegen Mietwohnungen für 10€/qm oder umgewandelte Eigentumswohnungen und die dazugehörigen Immofirmen und Entmietungsagenturen. Auch der hochpreisige Neubau ist auf dem Gelände der ehemaligen Kindlbrauerei angekommen. Dagegen wird etwa seitens des QMs hartnäckig behauptet, so etwas wie Gentrifizierung fände nicht statt in Nord-Neukölln. Eine kürzliche erschienene Studie begräbt diesen Mythos nun endgültig. Im Postleitzahlbereich 12049 sind die Mieten seit 2009 um 89% gestiegen auf nun 10 Euro kalt pro Quadratmeter. Verdrängung findet also nicht statt?
Wo sind die Wohnungen?
An den steigenden Mieten wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Schuld ist daran trotz aller Beteuerungen der fehlende Wohnungsneubau. Selbst wenn es zu den vom Senat versprochenen 7000 neue Wohnungen kommt, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zum einen ist Berlin die Singlehauptstadt – die Hälfte aller Mietwohnungen sind Einpersonenhaushalte. Zum anderen ist die Stadt in den letzten Jahren um 40.000 Einwohner gewachsen – und der Zuzug hält an. Rein rechnerisch bedarf es dafür 20.000 neue Wohnungen. Zwar hat sich es bis in die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung herumgesprochen, dass es ein Problem mit den steigenden Mieten und der damit verbundenen Verdrängung gibt, bislang wird jedoch mit Symbolpolitik reagiert. So wird eine Zweckentfremdungsverordnung für Berlin beschlossen, nur ist der Bezirk Neukölln bis heute nicht in der Lage sie praktisch anzuwenden. Der mehrfach skandalisierte Leerstand in der Weisestraße 47 wird vom Bezirk ignoriert. Die Erweiterung des Kündigungsschutzes bei Umwandlung gilt nur für Altmieter*innen, wie sich in einem Haus in der Allerstraße gezeigt hat. Auch von der breit angekündigten Mietpreisbremse sollte man sich nicht zu viel versprechen. Der Gesetzentwurf enthält so viele Ausnahmen, dass in Berlin 800.000 Wohnungen nicht darunter fallen. Mit dem alle zwei Jahre neu vorgestellten Mietspiegel (auch Mieterhöhungsspiegel genannt) bleibt der gesetzliche Rahmen weiter unangetastet. Auch für die Wohnungen, die vorher mehr als 10% über dem Mietspiegel liegen, darf weiter die teure Miete kassiert werden. Eine üble Rolle spielen auch die städtischen Wohnungsunternehmen. Zwar hat der Senat mit ihnen im letzten Jahr ein Mietenbündnis geschlossen um Mieterhöhungen zu begrenzen, etwa auf 10% des Einkommens in bestehenden Mietverhältnissen im sozial geförderten Wohnungsbau. Dumm dabei ist nur, dass die steigenden Nebenkosten nicht berücksichtigt werden, wodurch die Wohnungsbaugesellschaften die Begrenzung umgehen können.
Toll klingt zunächst, dass der Wohnungsbestand der Städtischen bis 2016 durch Neubau und Zukauf um mehr als 25.000 Wohnungen erhöht werden soll. Allerdings sind dabei auch die Townhouses der DEGEWO oder zugekauften Wohnungen einberechnet, die zu marktüblichen Preisen angeboten werden. Marktüblich heißt in Berlin heutzutage teuer. Und auch der Rest geht nicht unter 6,50 Euro kalt über den Ladentisch, was bereits jetzt über dem liegt, was viele Haushalte in der Stadt bezahlen können oder vom Jobcenter genehmigt bekommen.
Die im Mietenbündnis angepriesene soziale Verantwortung der städtischen Wohnungsbaugesellschaften wird nicht zuletzt von 4600 Zwangsräumungen in den letzten fünf Jahren konterkariert. Eine kürzliche erschienene Studie ermittelt die höchste Zwangsräumungsquote bei den Städtischen, jede fünfte Zwangsräumung in Berlin findet dort statt. Immerhin formierte sich unter dem Motto „Zwangsräumung Verhindern!“ ein Bündnis gegen diese Form der Verdrängung. Erfolgreich konnte bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land eine Räumung verhindert werden. Zusammen mit Nachbar*innen, der Stadteilgruppe 44_rund um die Hermannstraße und viel Zuspruch von Mieter*innen aus der Rollbergsiedlung erkämpften Zeinab und ihrer Tochter den Verbleib im Kiez.
Jobcenter und Wohnungslosigkeit kein Problem?
In vielen Fällen ist das Jobcenter die Ursache von Zwangsräumungen. Da wird die Miete nicht rechtzeitig oder in voller Höhe bezahlt, und alsbald flattert die Kündigung ins Haus, der dann vor Gericht Recht gegeben wird. Das Jobcenter Neukölln bewilligt außerdem nur 17 % aller Anträge auf Übernahme der Mietschulden. Besonders absurd wird es, wenn beispielsweise eine Familie aus diesen Gründen zwangsgeräumt wird. Hier ist die Stadt verpflichtet eine Notunterkunft zu stellen. Da jedoch die Wohnheime hoffnungslos überfüllt und zudem für Kinder völlig ungeeignet sind, greift der Bezirk auf eine Unterbringung im Hostel zurück, die 25 Euro pro Tag und Person kostet. Um es nochmal auf den Punkt zu bringen: Es passiert also, dass das Jobcenter Mietschulden einer Familie von z.B. 800 Euro nicht übernimmt, was zum Wohnungsverlust führt, worauf der Bezirk dann für die Unterbringung 3000 Euro bezahlt.
Das Ergebnis von Zwangsräumungen ist oft die Obdachlosigkeit. Über das Leben ohne eigene Wohnung haben wir in den Randnotizen mehrfach berichtet. Wie viele Obdachlose es im Bezirk und in der Stadt gibt, weiß niemand. Der Senat sieht seit langem keine Notwendigkeit eine Statistik über Wohnungs- und Obdachlosigkeit einzuführen.
Der Weg aus der Obdachlosigkeit wird immer schwerer. Auch auf Wohnungen im geschützten Marktsegment warten die Menschen mittlerweile zwei bis drei Jahre. Dieses Segment soll denen zugutekommen, die Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt haben. Aber selbst die städtischen Wohnungsbaugesellschaften erfüllen ihre Kontingente nicht. So fordert der AK Wohnungsnot schon lange eine Aufstockung in diesem Bereich. Passieren tut natürlich nichts.
Eine völlig fehlgeschlagene Wohnungspolitik, das repressive Jobcenter, die Geschäftspolitik der städtischen Wohnungsbaugesellschaften – staatlich verantwortet wird also weiterhin Wohnungslosigkeit produziert. Profitieren tun hier allein Wohnheimbesitzer und soziale Träger, die für die Verwaltung der Misere Mieten und Provisionen kassieren.
Weg mit dem Zwangssystem
Das Jobcenter ist weiterhin ein aktiver Akteur der Verdrängung in Neukölln. So werden in der Praxis immer noch die zu niedrigen Sätze der Kosten der Unterkunft angewendet, obwohl das Bundessozialgericht diese im letzten Jahr für unzulässig erklärt hatte. Das Jobcenter ist aber auch Akteur bei den neuen Strategien sozialer Kontrolle und Überwachung. So wurden viele Hartz-IV-Bezieher*innen als 1-Euro-Jobber gezwungen als sogenannte Kiezstreifen durch die Straßen zu laufen, um ein erhöhtes Sicherheitsgefühl zu simulieren und Sperrmüllhaufen zu melden. Auch das jährliche Aushängeschild „48 Stunden Neukölln“ bedient sich bei diesen Jobs. Zynisch könnte man feststellen, dass hier diejenigen für die Aufwertung der Kieze sorgen, die sich das Wohnen dort selbst nicht mehr lange leisten können. Solche Maßnahmen werden bestellt und bezahlt vom Quartiersmanagment. Dort dürfen im Quartiersrat frei nach dem Zauberwort der Bürgerbeteiligung Bewohner*innen über Kleinstprojekte beschließen. Die großen Leitlinien entscheiden aber dann doch wieder nur die politisch Verantwortlichen. Läuft es hier mal nicht so wie geplant, zeigt man sich in Bezirksamt und Senat schnell beleidigt, wie etwa beim Volksentscheid zum Tempelhofer Feld. Der mittlerweile in Ruhstand gegangene Dorfschulze Buschkowsky erklärte zum Abstimmungsergebnis: „Die menschliche Dummheit ist unendlich“. Hier offenbart sich das Demokratieverständnis solcher Leute in ganzer Pracht. Wie ernst es mit der Bürgerbeteiligung am Ende ist, musste auch die Vorbereitungsgruppe des beliebten unabhängigen Weisestraßenfests erfahren. Mit immer neuen behördlichen Auflagen und Gängelungen sollte das Fest wohl verhindert werden. Die Vorbereitungsgruppe ließ sich davon aber nicht beeindrucken und das Fest konnte stattfinden.
Weiter geht es
Spätestens seit September 2011 ist das Thema Armut, Verdrängung und steigende Mieten aus der Öffentlichkeit nicht mehr weg zu leugnen. Zwar hat sich der Wunsch nach einer neuen sozialen Bewegung seit dem nicht in vollem Umfang erfüllt. Es gibt aber eine Vielzahl unterschiedlicher Formen von Protest und Widerstand. Gerade in dieser Vielfalt liegt eine gewisse Stärke. Es ist ja auch nicht so, dass sich nichts erreichen lässt. So konnte das Mietenbündnis Neukölln die Beton-SPD rund um Baustadtrat Blessing vom Sinn einer Einführung von Milieuschutzgebieten überzeugen. Warum allerdings im Gebiet Schillerkiez der Warthekiez keinen Milieuschutz enthalten soll, bleibt ein Geheimnis. Ein anderes Beispiel des Zusammenspiels unterschiedlicher Aktionsformen ist der Widerstand gegen den Entmietungsspezialisten Ziegert. Kundgebungen empörter Mieter*innen, Unterstützung von Stadteilgruppen, sowie nächtliche Aktionen gegen Neubauten von Ziegert haben beim Unternehmen wohl doch Eindruck hinterlassen. Zumindest hat Ziegert seinen Schwerpunkt von der Entmietung auf den Neubau von hochwertigen Miet- Und Eigentumswohnungen verlegt.
Wichtig wird es auch in der Zukunft sein den politischen Druck hoch zu halten. Denn wie berichtet gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Wenn es gelingt, die unterschiedlichen Formen und politischen Ansätze mit den alltäglichen Widerständen zu verbinden, steht einer breiten Mieter*innenbewegung nichts im Wege.
Die Vielzahl der Inhalte in den letzten fünf Jahren Randnotizen konnte hier nur angerissen werden. Dennoch bieten sie einen guten Überblick, womit sich diese Stadtteilzeitung beschäftigt und an wessen Seite sie steht – nämlich allderjenigen, die sich Verdrängung, Armut, Diskriminierung und Ausgrenzung entgegensetzen. Die Randnotizen werden auch weiterhin ein Sprachrohr für die sein, die sonst wenig oder gar kein Gehör finden. Wie zu Beginn angemerkt, freuen wir uns dafür über jede Unterstützung.
Eure Randnotizen
entnommen der Ausgabe 12 der Stadtteilzeitung RandNotizen