Neukölln in Stadtführern und Büchern

„Ich glaube, ich habe mich allmählich hier eingelebt.“

Der Tourismus in Berlin ist weltweit am stärksten gewachsen, Neukölln ist allerdings in vielen Stadtführern noch nicht so präsent. In einigen älteren Ausgaben wird Neukölln als Problembezirk erwähnt, der Schlagzeilen macht. Ein Reiseführer: „Viel zu oft geht es da um minderjährige Drogenhändler, schlechte Schulleistungen, eskalierende Gangbrutalitäten und Integrationsprobleme.“ Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky tut einiges für den schlechten Ruf, jüngst in seinem Buch Neukölln ist überall, zuvor u.a. mit seinem Ausspruch “Multikulti ist gescheitert“. „Ein bitteres Fazit in einem Bezirk, in dem 300 000 Menschen aus rund 160 Nationen ein nachbarschaftliches Zusammenleben meistern sollen. (…) Aber Neukölln ist im Fluss, und es hat sich sogar schon einiges Positive getan.“, so ein Journalist. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass es der Armutsbevölkerung von Neukölln besser geht, sondern dass „Kreative“ und StudentInnen in den Bezirk ziehen und auch immer mehr TouristInnen den Bezirk besuchen, die „für frischen Wind sorgen.“.

Das geht auch anders

Der lonely planet guide von 2011 schreibt, dass Kreuzkölln aktuell der angesagteste Bezirk sei. „Bars mit echtem Trash-Schick, Cafes, Galerien und Boutiquen schießen wie Pilze aus dem Boden, vor allem um die Friedel-, Pannier-, Reuter-, Hobrecht- und Weserstraße. Die nächsten Jahre werden hier bestimmt spannend – aber auch heute lohnt sich eine kleine Entdeckungsreise“. Immer mehr „begabte und hoffnungsvolle, aber wenig begüterte Studenten, Künstler, Musiker, Djs und Designer“ kämen nach Nordneukölln, dieser Kiez sei „perfekt für Menschen mit eigenen Visionen und für Stadtabenteurer, die sich nicht scheuen, hinter die Schlagzeilen zu schauen“.
Ein Stadtführer Berlin von 2012 preist „die Ausgehmeilen schlechthin“ an. In der Weser- und Weichselstraße könne man von Kneipe zu Kneipe ziehen. Picheln könne man auch im Syndikat: „’Kein Ort für Nazis!’ steht am Fenster – willkommen im punkigen Neukölln! Bunte, laute Atmosphäre, manchmal politische Veranstaltungen, Rauchen erlaubt. Unbedingt probieren: das Rollberg-Bier aus Neukölln.“
Als die Zitty schrieb „Neukölln rockt!“ wussten „auch die Letzten: Das junge und wilde Berlin ist nur hier zu suchen.“ Der Reuterkiez sei momentan der dynamischste Bezirk und werde sich immer weiter ausdehnen, so ein weiterer Stadtführer. Aber: „Dass der Norden Neuköllns noch immer zu den so genannten Problemvierteln der Stadt gehört, darf bei all der Euphorie nicht vergessen werden. Neukölln hat eine Arbeitslosenquote von 20% und kämpft mit dem Stigmata der Kriminalität, der gescheiterten Integration und Ghettoisierung.“


Champagner trinken in der Bronx

Aber schauen wir doch in einen „Low Budget“-Führer mit „Insider-Tipps“ hinein. Das Ringo: „Der Retro-Stil ist auch in Neukölln angekommen, hier fühlt man sich so hip wie in Mitte und Prenzlauer Berg, nur dass die Preise moderater sind (…)“ Ein Cocktail koste ca. sechs Euro. Im Matilda werden sogar Cocktails ab fünf Euros geschüttelt. Die Yuma-Bar mit „Cocktails für 5,50 Euro“ zeigt, „dass Ausgehen mit Stil nicht teuer sein muss.“ Im Raumfahrer ist ein junges Szene-Publikum, „das auch von weiter her anreist, um hier in coolem Ambiente mit unverputzten Betonwänden und Gratis-DJ-Sound günstig die ewige Nacht zu feiern.“ Wie das Freie Neukölln zeigt: „Einfache Einrichtung mit blanken Holztischen und -stühlen, freundliches Personal, günstige Preise und trinkfreudiges Publikum – das ist das Erfolgsrezept von Neuköllns Eckkneipe neuesten Zuschnitts.“ Günstig sei der griechische Salat für 4,50 Euro. Auch bei dem Ä mit „einfachen Holztischen“ gehe das Konzept auf. Auf dem Tempelhofer Feld könne man seit 2009 an Führungen (4,50-5,90 Euro) teilnehmen. 2017 werde eine Internationale Gartenausstellung den Ort „aufhübschen.“ Mit diesem „Aufhübschen“ wird es ja jetzt nichts, die IGA wurde abgesagt. Aber „aufgehübscht“ wird inzwischen auch der angrenzende Schillerkiez, der in den Reiseführern noch nicht erwähnt wird. Erste Anzeichen wie in Kreuzkölln werden bereits gesichtet, neue BewohnerInnen, neue Cafes, neue Bistros usw. Und warum nicht auch die Problemseite Neuköllns vermarkten, beschwerte sich der Tagesspiegel über einen Reiseführer nur über Neukölln, der den Bezirk zu sehr ausschmückte: „Und seien wir mal ehrlich, Touristen kommen sicher auch in den Bezirk, weil er inzwischen als ‚Berlins Bronx’ bekannt ist. Auch wenn es nur logisch ist, dieses Image ändern zu wollen, ist es vielerorts noch Realität. Warum sollte man das dann nicht auch nutzen und die verschrobene Mischung in Neukölln in seiner ganzen Breite beschreiben?“

Tourist Guide Neukölln Cover

Das Titelbild einer Werbebroschüre für Nord-Neukölln Tourismus

Neuigkeiten aus Berlin

In einer anderen „Breite“ beschreiben auch Bücher Neukölln. Im Buch für Berlin-Hasser schreibt Falco Rademacher, dass nach dem Wegfall der Berlin-Subventionen die Arbeitswelt der Migranten in den Industriebetrieben zusammenbrach. „Heute sind vier von fünf Straftätern in Neukölln Migrationshintergründler, jeder zweite Einwohner in Neukölln bezieht Sozialleistungen, und die Kinderarmut ist auf über fünfzig Prozent gestiegen. Nur sehr wenige auslandsstämmige Jugendliche haben eine Lehrstelle, der Rest langweilt sich und baut Scheiße oder versucht sich an einer Box-Karriere. Es mag wie ein bescheuerter Witz klingen, aber genau diese Region wird unter jungen Berlinern sogar als neues Szeneviertel gehypt. Und wenn Neukölln sonst nichts hat, dann eben die billigen Mieten.“
Auch Uli Hannemann macht sich über seine Neuköllner MitbürgerInnen lustig. So über den „Idioten“ in der Hasenheide, der ihn für Gott hält. „Leider erkenne ich nicht auf Anhieb, dass er verrückt ist. Der Depp hört anscheinend nicht zu. Wie lange will der Bekloppte eigentlich noch hinter mir herrennen und mich lobpreisen. Der Wahnsinnige verfolgt mich weiter: ‚Ich möchte mitkommen, Gott‘, bettelt der krankhafte Kreationist.“ Dann bleibt er zurück: „Gott sei Dank!“ „Humoristische“ Streifzüge durch Problembezirke sind gerade in Mode und verkaufen sich prächtig. Neukölln, Kreuzberg, Wedding, wo noch das Leben tobt und nicht Ödnis vorherrscht, wie beispielsweise in Wilmersdorf oder Lankwitz.

Na ja, da darf man gespannt sein, was der ComedyBus Berlin in seiner Tour „Neukölln classic“ so zu berichten hat. Oder eine Stadtführung von Stattreisen mit dem Titel: „Endstation Neukölln?“ Es ist zu befürchten, dass sich in einigen Jahren diese „Endstationen“ eher an den Stadträndern Berlins tummeln werden. Die so genannten postmodernen Milieus drängen in die Innenstädten und sind unter anderem im Prenzlauer Berg zu bewundern. Für Nachschub ist gesorgt. Die Lawine, die sich bereits durch die Ostberliner Innenstadt (Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain) und Kreuzberg gewälzt hat bzw. noch wälzt, wird auch ihr Werk in Nord-Neukölln tun. Man schaue sich nur Mitte und den Prenzlauer Berg an, dann weiß man, was zu erwarten ist. Aus früherer Kreativität ist eine Homogenität geworden, die einen nur noch zum Gähnen bringt.

Aber so leicht werden sie Neukölln nicht „säubern“ können, wie zum Beispiel den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg. Wir sind schwer verdaulich und zäh! Machen wir es überall bunt und lebenswert!!! Gemeinsam und nicht vereinzelt! Wir sehen uns!Wir bleiben Neukölln!

DB Fahrradverleih Herrfurthplatz

Kurzzeitig defekter Automat der Deutsche Bahn Fahrradmietstation am Herrfurthplatz
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Der vorige Text wurde bereits in der im Juli erschienenen Ausgabe 9 der RandNotizen – Stadtteilzeitung aus dem Norden Neuköllns veröffentlicht.
Zur Einschätzung des Tourismus ein weiterer Artikel, der bereits im Juli 2011 veröffentlicht wurde, aber bis auf die Zahlen (die weiter gestiegen sind) nach wie vor aktuell ist:
Auf dem Weg zur Entertainment- und EventCity Tourismus und Stadtumstruktierung.

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