Tourismus und Stadtumstrukturierung

Vor einem Jahr wurde in der 5. Ausgabe der „Randnotizen – Stadtteilzeitung aus dem Schillerkiez“ ein Artikel zum Thema Tourismus abgedruckt, den wir hier auch mal Online stellen wollen.
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Die Tourismuspolitik des Berliner Senats ist eine Politik zum Wohle der Wirtschaft. Ein Interessenausgleich mit den Bewohner_innen findet nicht statt. Auf dem Weg zur Entertainment-City bleibt kein Platz mehr für die wirtschaftlich nicht Verwertbaren.

„Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet“

schrieb Enzensberger schon vor knapp vierzig Jahren, und hat damit die Problematik des Tourismus auf den Punkt gebracht. Spätestens seit der Veranstaltung der Grünen „Hilfe, die Touris kommen“ im Februar in Kreuzberg ist die Debatte um den Tourismus und seine Auswirkung für das innerstädtische Leben, auch in Berlin neu entbrannt. Die anschließende Auseinandersetzung in den Medien charakterisierte die Kreuzberger_innen als intolerante, tendenziell fremdenfeindliche Spießer, die ihrem eigenen Ansprüchen der Offenheit und Toleranz nicht gerecht werden würden. Die Beiträge zum „tourihassenden Kreuzberger“ zeichneten sich dabei vor allem durch ihre Inhaltsleere aus. Die verkürzte Darstellung der Bewohner_innen dient dem Zweck, ihre berechtigten Ängste und ihre Wut als Produkt der eigenen Intoleranz und Engstirnigkeit darzustellen. Dass nicht umsonst 200 Menschen zu der Veranstaltung kamen, und der Tourismus einen massiven Einfluss auf die Veränderung der Stadtteile hat, der sich selten zu Gunsten der AnwohnerInnen auswirkt, wurde nicht thematisiert. Dabei hat selbst die bürgerlich-konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Beitrag zum Tourismus in Berlin vom 13. März 2011 erkannt: „Bei näherer Betrachtung geht es aber gar nicht um Touristenphobie oder gar ein Touristenverbot. Sondern um die Kiezstruktur, die sich verändert hat, und das könnte dramatisch werden: Der Einzelhandel zieht aus, Massenabfertigungsgastronomie zieht ein.“ Es soll in diesem Artikel nicht um eine Kritik am Reisen oder um eine pauschale Verurteilung aller Tourist_innen gehen. Die Kritik zielt auf das Konzept der Tourismusindustrie und ihre willige Stadtpolitik.

In Zahlen

Berlin hat in den letzten Jahren einen rasanten Zuwachs an Tourist_innen erfahren. Im letzten Jahr gab es ungefähr 21 Millionen gewerbliche Übernachtungen in Berlin (ca. 9 Millionen Menschen, die im Schnitt 2,5 Tage in Berlin bleiben), dazu kommen jährlich ca. 132 Millionen Tagesreisende. Damit sind an jedem Tag ca. 480.000 Tourist_innen in Berlin unterwegs. Auf sieben Einwohner_innen kommt damit statistisch ein_e Tourist_in. Von 1993 bis 2010 hat sich die Zahl der Übernachtungen von 7,5 Millionen auf ca. 21 Millionen beinahe verdreifacht. Zwischen 2003 und 2009 ist die Zahl der gewerblichen Übernachtungen um 68% gestiegen. Die Beherbergungsbetriebe (Hotels etc.) sind im gleichen Zeitraum um 190 Betriebe und die verfügbaren Betten um 42.000 gestiegen, so dass zur Zeit 750 solcher Betriebe und 110 000 Betten in Berlin existieren. In Neukölln ist der Anstieg der Übernachtungen bisher relativ gering ausgefallen. Wenn wir aber einen Blick über die Bezirksgrenze auf Friedrichshain-Kreuzberg werfen, so lässt sich ahnen, welche Entwicklung in Zukunft auch in Neukölln zu erwarten sein dürfte. Dort hat sich die Zahl der Übernachtung innerhalb von sechs Jahren (2003-2009) verdreifacht. Von den ca. 9 Millionen Übernachtungsreisenden im Jahr nächtigte ca. eine Million dort. Die Vermutung, dass auch Nordneukölln stärker in den Blick städtischer Tourismusvermarktung gerät, liegt aufgrund der agressiven Bewerbung von „Szenekiezen“ nahe. Ständig wird hervorgehoben, es müsse der Flair Berlins, das Subkulturelle und Kreative zu Markte getragen werden. Ähnlich wie in den Diskussionen um die Gentrifizierung Neuköllns wird also auch hier versucht werden, das „kreative Potential“ der Kieze im Bereich Tourismus zu verwerten. Auch der neue Flughafen Berlin-Brandenburg-International, wird für die tourismusbedingte Veränderung Neuköllns von Bedeutung sein. Schon im Stadtentwicklungskonzept Berlin 2020 wurde dabei Nordneukölln als zukünftige „Visitenkarte der Stadt“ bezeichnet (siehe Randnotizen Nr. 4)

Und der Senat?

Für den Senat ist das alles ein Grund zum Feiern. In dem Tourismuskonzept 2011+ des Berliner Senats wird die eindimensionale ökonomische Betrachtung des Tourismus auf 40 Seiten konsequent durchgehalten. Bereits der erste Satz lautet: „Die Entwicklung des Berlin-Tourismus ist eine Erfolgsgeschichte und von erfreulicher Dynamik geprägt.“ Die einzigen Ziele dieser Politik sind der Ausbau des Tourismus, es sollen immer mehr Tourist_innen in die „Weltmetropole Berlin“ gelockt, und die Stadt in eine Entertainment-City verwandelt werden. Das Utopia der Stadtplaner_innen, Politiker_innen und der Tourismus-Lobby scheint ein Spektakel zu sein, dass 24 Stunden am Tag aus Modemessen, Kongressen, Partys und Kulturevents besteht. Natürlich darf das Authentische dabei als ultimativer Verkaufsfaktor nicht verloren gehen. Doch wahrscheinlich muss diese Rolle in Zukunft von Statist_innen übernommen werden, denn die Mietsteigerung in der Stadt lässt den Menschen, die als authentisch gelten, bald keinen Platz mehr zum Leben. Der ganze Stolz platzt aus den Planer_innen hervor, wenn sie auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit Berlins im europäischen Städtetourismus verweisen: Platz 3 hinter London und Paris – Wettbewerb um jeden Preis. Die verschiedenen Teilziele, die festgelegt werden, orientieren sich genau an dieser Wettbewerbsfähigkeit der „Tourismusmarke Berlin.“ Alles soll zu diesem Zweck vermarktet werden, darunter auch „berlintypische Attribute wie Freiheit, Offenheit, Authenzität, Ehrlichkeit und Moderne.“ Ebenso soll versucht werden, die einzelnen Bezirke stärker in die Vermarktung mit einzubeziehen („Bezirksjuwelen“ sollen beworben werden), sie sollen sich als Teil des Gesamtkonzepts Marke Berlin verstehen. Dabei stellen die Verfasser_innen fest, dass der Tourismus in Berlin das Potential hat „in Zukunft im gesamten Stadtgebiet für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung zu sorgen.“

Hinter den gebetsmühlenartigen Argumenten von Wachstum und Arbeitsplätzen bleibt verborgen, was dieser flächendeckende Tourismus in den unterschiedlichen Gegenden anrichten kann. In dem vierzigseitigen Papier findet die Bevölkerung Berlins in ganzen neun Zeilen ihren Platz. Dort heißt es lapidar: „Die für die künftige Infrastruktur Verantwortlichen sind gemeinsamen mit weiteren Akteuren der Stadt gefragt, zur Reduzierung möglicher Konfliktebenen und Überlastungserscheinungen beizutragen.“ Interessant ist, dass diese „Erscheinungen“ und „Konfliktebenen“ im Kapitel über tourismushemmende Faktoren behandelt werden. Ein Abschnitt etwa über die Interessen der Bewohner_innen hingegen fehlt vollkommen.
Tourismus ist gut, mehr Tourismus ist besser, so die Position der politischen und wirtschaftlichen Akteure. Begründet wird diese Haltung mit der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismussektors und den damit verbundenen Arbeitsplätzen. Etwa neun Milliarden Euro setzt die Branche jährlich um. Laut Statistik hängen in Berlin am Tourismus etwa 230.000 Arbeitsplätze. Außerdem beschert der Städtetourismus dem Land jährlich etwa 1,85 Milliarden Euro an Steuereinnahmen (Diese Zahlen kommen von der Branche selbst). Viele der Arbeitsplätze sind äußerst prekär, sie bestehen zum großen Teil aus Zeitarbeit, Billiglöhnen, der Ausbeutung Illegalisierter und Saisonarbeit. Außerdem ist es schwer auseinander zuhalten welche der Jobs konkret am Tourismus hängen, da es z.B. in der Gastronomie bei der Nutzung starke Überschneidungen zwischen Berliner_innen und Tourist_innen gibt.

Und die Anwohner_innen?

Die Freude über den Massentourismus in Berlin teilen aber offenbar nicht alle Menschen . Was passiert in den Kiezen, die auf einmal von Reiseführern wie Lonely Planet entdeckt, und von deren folgsamen Touris belagert werden? Wenn sich der Kiez in eine Art urbanen Ballermann verwandelt, so hat das für die NachbarInnen nicht nur unmittelbare Folgen wie Lärm, Müll und so weiter, sondern auch ganz handfeste Auswirkung auf die Beschaffenheit der Viertel. Wenn viele Tourist_innen in einem Gebiet unterwegs sind, das auf sie attraktiv, weil authentisch, wirkt, macht es schnell die Runde, dass mit diesen Menschen Geld zu verdienen ist. Zunächst ändern sich die Funktionen der Gewerbeflächen. Wo früher der Fleischer- und Gemüseladen war, siedeln sich Gastronomie (häufig als Kettengastronomie), Vergnügungstätten und Hotels an. Die Einkaufsmöglichkeiten des täglichen Bedarfs weichen teuren „Shoppingstores“. Bei steigender Attraktivität erkennt die Immobilienbranche die Möglichkeit der Wertsteigerung und die Häuser werden saniert. Im Laufe der Zeit steigen nicht nur die Preise für Mietwohnungen, sondern auch die der Konsumgüter. Das Angebot der ansässigen Läden passt sich immer mehr an die Bedürfnisse der Tourist_innen an, da diese in der Regel über mehr Kaufkraft verfügen (Tages- Übernachtungs- und Buisnesstouristen geben jeweils im Schnitt 60, 200 bzw. 250 Euro am Tag aus). Durch die Attraktivität nimmt die Nachfrage an Wohnungen immer weiter zu. Hotels, Ferienwohnungen und Hostels entstehen (in Berlin gibt es bereits 10 000 Ferienwohnungen, die das Wohnungsangebot verknappen und zusätzlich für eine Anspannung des Marktes sorgen). Auch Unternehmen erkennen zum Teil die Kieze als Prestigegegenden für ihre Büros. In dieser Entwicklung, die mit dem Prozess der Gentrifizierung eng verflochten ist, kommt es zwangsläufig zum Nutzungskonflikt zwischen den Anwohner_innen und den Tourist_innen. Welche Interessen überwiegen, wird nicht nur im Tourismuskonzept 2011+ deutlich. In einer Gesellschaft, die nur die eindimensionale Betrachtung der Verwertbarkeit kennt, und nur das akzeptiert, was in Profit verwandelt werden kann, werden sich diejenigen Interessen durchsetzen, deren ökonomisches Gewicht stärker ist. In Neukölln sind das sicher nicht die Bedürfnisse der AnwohnerInnen. Ein Interessenausgleich findet höchstens dort statt, wo die Anwohner_innen selbst über ausreichend ökonomisches Potential verfügen, wie z.B. der Konflikt um die Lärmbelästigung an der Admiralsbrücke veranschaulicht.
Eine Stadtpolitik, die ihre politische Gestaltungsmöglichkeit lediglich nutzt, um den Tourismus immer weiter zu fördern, ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Das Argument, die ungehemmte Tourismusförderung, sei alternativlos, da sie das wirtschaftlich wichtigste Standbein Berlins sei, trägt zur Alternativlosigkeit bei, da sie die Abhängigkeit immer wieder erschafft und verfestigt. Nachhaltige Stadtplanung für die Bewohner_innen sieht anders aus.

Randnotizen 5, Juli 2011

weitere Infos :
Stadtentwicklung und Ideologie Tourismuskritik als Indikator neoliberaler Stadtentwicklung

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