Pioniere im Schillerkiez

TOPOS hat die Veränderung der Sozialstruktur in Nord-Neukölln untersucht

Spätestens seit die Hasenschänke im Volkspark Hasenheide Bionade verkauft, ist es offensichtlich, dass Neukölln von größeren kulturellen Umwälzungen heimgesucht wird. Diese zu erforschen und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerungszusammensetzung zu untersuchen, lautete der Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung an das Stadtforschungsbüro TOPOS . Anfang März stellte Sigmar Gude von TOPOS die Ergebnisse in Form einer Studie mit dem wunderschönen Titel Sozialstrukturentwicklung in Nord-Neukölln in der Rütli-Schule vor. Laut Herrn Gude lässt sich bisher nur um den Reuterplatz von Entwicklungen sprechen, die man als Gentrifizierung bezeichnen könne. Im Rest Neuköllns, insbesondere in der Gegend um die Schillerpromenade, habe ein Gentrifizierungsprozess bisher nicht einmal begonnen.

Da fühlt sich der gesunde Menschenverstand natürlich verarscht. Kann man doch am Herrfurthplatz, hinter der abgebrochenen Kirche, inzwischen sogar Delikatessen erstehen. Für TOPOS ist Gentrifizierung allerdings auch nur der „Austausch einer statusniedrigen Bewohnergruppe durch eine andere mit höherem Status/Einkommen“ – also Arme gehen, Reiche kommen. Gentrifizierung ist aber immer auch eine Art Kulturkampf, der diese Verdrängung erst ermöglicht. Zuerst kommen sogenannte Pioniere, Subkulturen etwa, Künstlerinnen oder Studenten. Nach und nach bestimmen sie das Straßenbild und schaffen die Infrastruktur, die dann die Baumafia und Besserverdienende anlockt und irgendwann die Pioniere zusammen mit der Urbevölkerung vertreibt. So in etwa, stark verkürzt, läuft normalerweise das ab, was man Gentrifizierung nennt.

Dass die im Schillerkiez längst begonnen hat, kann man aus der TOPOS-Studie durchaus auch herauslesen, wenn man will. Von den nach 2007 neu in diese Ecke der Stadt Gezogenen zählt selbst TOPOS knapp die Hälfte zu den Pionieren – jungen, gut ausgebildeten Leuten mit akademischen oder künstlerischen Berufen, aber geringem Einkommen. Das Viertel befindet sich damit wohl mitten in der Pionierphase der Gentrifizierung. Aber Herr Gude hat natürlich Recht, wenn er sagt, es sei keinesfalls ausgemacht, dass irgendwann oder gar in Kürze die nächste Runde eingeläutet wird und hier ein Stadtteil für betuchte Schnösel wie am Kollwitzplatz entsteht. Durch die Wirtschaftskrise könnte es genauso gut Mittellose aus Spanien oder Griechenland in größeren Mengen hierher verschlagen. Einige sind wahrscheinlich längst hier.
Wer bei schönem Wetter durch die Straßen um die Schillerpromenade schlendert, sieht natürlich, wie sich die neuen Cafés wie das Engels in der Herrfurthstraße oder die Pappelreihe in der Kienitzer Straße mit jungen Leuten füllen, die man hier vorher nicht sah und die komische Getränke trinken. Aber die anderen sind auch noch da. Im Bierbaum 3 an der Schillerpromenade bekommt man seinen Schnaps immer noch für 80 Cent und vor den Spätkäufen dienen die Stromkästen als Behelfstresen. Der Kiez gehört weiterhin zu den ärmsten der Stadt und selbst Neuköllns.

Auch die Neuankömmlinge haben laut TOPOS im Schnitt nur unwesentlich mehr Geld. Die meisten sind unter 30, noch in der Ausbildung und wollen natürlich was erleben. Deshalb machen hier in letzter Zeit immer mehr Bars auf, die sich erst nachts füllen, wie das Bruchberg in der Okerstraße oder das Holz-Kohle in der Leinestraße. Selbst einige der Eckkneipen wie etwa das Bechereck in der Schillerpromenade oder das gegenüberliegende Schillers erhalten frischen Schwung durch die neue Kundschaft. Hier mischt sich das Publikum sogar.

Inzwischen gibt es sogar Menschen, die extra mit der U-Bahn anreisen, um zum Beispiel im Frollein Langner, einem Café in der Weisestraße, wie man sie sonst eher am Prenzlauer Berg findet, zu kickern oder sich dort vor dem Laptop zu langweilen. Noch vor fünf Jahren wäre es selbst unter Androhung schwerer körperlicher Gewalt undenkbar gewesen, jemanden in den Schillerkiez zu locken, um hier auszugehen. Der Ruf des Viertels verändert sich schneller als die soziale Wirklichkeit. Für Gentrifizierungsprozesse ist so etwas wichtig.

Deutlich verändert hat sich bereits die Miethöhe. Laut TOPOS zahlen diejenigen, die seit 2010 ihre Wohnung bezogen haben, durchschnittlich 24 Prozent mehr, als die, die das vorher taten. Und über ein Drittel wohnt erst seit gerade mal zwei Jahren in seiner Wohnung, während sogar weit über die Hälfte seit höchstens fünf Jahren dort lebt. Ein Bevölkerungsaustausch findet also sehr wohl statt. Ob jene, die in letzter Zeit das Viertel verlassen haben, das aus freien Stücken taten oder zwangsweise, hat TOPOS nicht untersucht. Angesichts einer Arbeitslosigkeit von 26 Prozent muss man aber wohl leider davon ausgehen, dass viele unfreiwillig ausgezogen sind, weil ihre Miete über dem „Regelsatz“ lag, den das Jobcenter zahlt. Wenn das Amt nicht bald mehr Geld für die Miete rausrückt, trifft das demnächst richtig viele. Nach Angaben des Neuköllner Jobcenters hat es bereits jetzt ein knappes Drittel seiner Kundschaft aufgefordert, die Wohnkosten zu senken, also entweder umzuziehen oder enger zusammenzurücken. Wer mag, kann die Differenz zwischen „Regelsatz“ und tatsächlicher Miete auch selbst begleichen. Da ist doch geradezu unvernünftig, wer nicht unerlaubterweise zusätzliche Gelder auftreibt, sei es durch Schwarzarbeit oder durch Überfälle auf Touristen, die glauben, hier unbehelligt ausgehen zu können.

Pressereaktionen zu der Studie in der Presseschau unter Materialien zur Task Force Okerstrasse, Quartiersmanagement(QM) Schillerpromenade und Entwicklungen in Nord-Neukölln.
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Dieser Text erscheint auch in der neuen Ausgabe Nr.7 der Randnotizen – Stadtteilzeitung aus dem Schillerkiez. Wegen technischer Probleme ist sie leider erst in 1 oder 2 Wochen gedruckt erhältlich.

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